Rückblick
Erinnerung an Menschen in St. Jakobi
Wenn ich an St. Jakobi denke, dann fallen mir vor allem Menschen ein, denen ich in meinen 22 Amtsjahren in dieser Gemeinde begegnet bin.
Da ist zuerst die langjährige Gemeindeschwester Herta Steffen. Oben im Gemeindehaus hatte sie ihre kleine Wohnung und war dort jederzeit erreichbar. Früh am Morgen schon ging sie los und machte ihre Runde bei den Patienten, und war so oft bis in den Abend hinein für die Kranken in der Gemeinde da. Selbstverständlich fehlte sie auch bei keiner Gemeindeveranstaltung. Beste Kontakte hatte sie zu den Ärzten, die sie über Neuerkrankte oder über die, die bald aus einer Klinik entlassen wurden, informierten. Es war ihr besonderer Stolz, wenn sie erzählen konnte, dass ihre Patienten sich nicht durchlagen. Und wenn sie zu jemandem gerufen wurde, der an einem Dekubitus litt, dann brachte sie es mit unermüdlicher Geduld fertig, dass auch er von dieser Plage befreit wurde. Kein Wunder, dass sie allgemein beliebt war und man ihr gern vertraute. Uns Pfarrern war sie mit ihrem Rat und ihren Kenntnissen eine ganz große Hilfe.
Ein ganz besonderer Mensch war Schwester Dinah. Klein von Person, aber wieselflink. Als ich 1958 nach Jakobi kam, war sie schon längst nicht mehr im pflegerischen Dienst. Dafür kümmerte sie sich um die älteren Menschen. Da es in den Jahren nach dem Kriege keine brauchbare Kartei gab, war sie von Haus zu Haus gezogen, hatte die Alten mit ihren Geburtstagen notiert und achtete nun peinlich darauf, dass auch jeder seinen Gruß zum Geburtstag bekam. Dann stand sie manchmal in meinem Amtszimmer und ging nicht, bevor ich alle Grußkarten geschrieben hatte.
An dieser Stelle passt es, von Robert Pape zu berichten. Durch guten Kontakt mit der Polizeidienststelle, die auch gleichzeitig Einwohnermeldeamt für unsern Bezirk war, konnten wir neu zugezogene Personen dort aufschreiben lassen, um sie später mit einem Begrüßungsschreiben oder einem Besuch anzusprechen. Robert Pape hat lange Jahre treu Woche für Woche diese Arbeit getan.
Als Schwester Dinah in ihre Heimat nach Ostfriesland verzog, übernahmen die Helferinnen den Besuchs- und Begrüßungsdienst. Einen Helferinnenkreis gab es in Jakobi eigentlich von Anfang an. Jahrzehntelang trugen die Helferinnen das Gemeindeblatt aus (bis während des Krieges die Herausgabe kirchlicher Blätter verboten wurde) und vor allem betreuten sie gleichzeitig einen Bezirk (eine kleine Straße, ein paar Häuser). Zu den Helferinnen der ersten Stunde gehörte Wilhelmine Peters. Als ich sie kennen lernte, war sie etwa 80 Jahre alt, bis zu ihrem Tod mit 96 Jahren war sie eine lebendige Erinnerung an die Gründungsjahre der Gemeinde. Soweit sie konnte, war sie immer noch dabei. Ich fühlte mich besonders mit ihr auch dadurch verbunden, dass ich ihren einzigen Enkel gekannt hatte und der - das große Leid der Großmutter - Ende des Krieges noch gefallen war.
Die Lasten des Krieges: ich denke an Minna und Richard Bergmann, treue Gemeindemitglieder, er seit Anfang der dreißiger Jahre Kirchenvorsteher und fest zur Kirche stehend in der Zeit des Nationalsozialismus. Auch ihr einziger Sohn, treues Mitglied der evangelischen Jugend, war gefallen. Einen Schicksalsschlag, den die Eltern ergeben trugen, der sie aber doch niederdrückte. Ich hatte den Eindruck, dass diese beiden ohnehin nicht großen Menschen unter dieser Last noch um ein erhebliches Stück kleiner geworden waren.
Der Krieg war ja an keinem, der diese Zeit miterlebt hatte, spurlos vorüber gegangen. Er hat auch viele total verändert. Ich denke an Gustav Unger, Postbeamter, ursprünglich weit weg von der Kirche. Dann erlebte er 1944 in der Normandie, wie er, zum Tode durch Erschießen verurteilt, buchstäblich in der letzten Sekunde durch einen amerikanischen Offizier begnadigt und gerettet wurde. Für ihn war diese Rettung eine einzige Gebetserhörung. Nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft war sein erster Weg zur Kirche. Bis zu seinem Tod, er starb schon mit 54 Jahren, war er regelmäßiger Besucher der Gottesdienste und treuer Mitarbeiter im Männerkreis.
Ein anderer, der spät den Weg zur Kirche fand, war Karl Heinz Hinze. Was seine eigentlichen Beweggründe waren, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls erschien er eines Tages, - es muss Anfang der 60er Jahre gewesen sein, - bei mir im Pfarrhaus und erklärte mir, er möchte getauft werden. Eine ungewöhnliche Bitte, die mir bisher noch nicht begegnet war. Ich sagte ihm allerdings dann als erstes etwa: "Sie haben meinen Respekt, dass Sie den Mut haben und diesen Schritt tun wollen," worauf er antwortete: "Ich habe schon mehrfach vor Ihrer Tür gestanden und mich nicht getraut." Die Taufe war eine bewegende Feier, er selber wurde und blieb ein treues, eifriges, einsatzbereites Gemeindeglied, war später lange Zeit Kirchenvorsteher und Mitarbeiter im Männerkreis. Mit 55 Jahren starb er an einer äußerst quälenden, langwierigen Krebserkrankung, die er mit tiefgläubiger Geduld trug.
Ich komme noch einmal zurück auf die Helferinnen. Hatten sie einst das Gemeindeblatt ausgetragen und dem Pfarrer von den verschiedensten Schicksalen in ihren Bezirken berichtet, so sammelten sie nach dem Kriege die Groschen für das Evangelische Hilfswerk, führten die Haussammlungen für die Innere Mission (später Diakonisches Werk) durch und berichteten weiter von Schicksalen, die ihnen zu Ohren gekommen waren. Später, als die Sammlungen wegfielen, brachten sie die Geburtstagsgrüße in die Häuser und betreuten unsere Alten in den Seniorenkreisen. Im Laufe der Zeit bildeten sie dabei eine feste Gemeinschaft auch der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung. Hier wären nun viele Namen zu nennen, ich will aber nur einen heraus greifen: Anna Obermeyer. Frau Obermeyer ließ sich, nachdem ihr Mann verstorben war, aus der Einsamkeit ihres Witwendaseins heraus in den Helferinnenkreis einladen. Für Hausbesuche fühlte sie sich nicht geeignet, das, was sie am besten konnte, war die Arbeit in der Küche, und so war das "Abwaschen" nach den Seniorennachmittagen ihr ausschließliches Amt. Aber das war nicht das einzige. Ich erlebte sie, wie sie bei Sterbenden treu, fürsorglich, Ruhe und Geborgenheit ausstrahlend, saß und Wache hielt, ein stiller und doch so wichtiger Dienst,
Bei den Helferinnen darf dann auch Lilo Melchert nicht vergessen werden, die Jahrzehnte lang zunächst die Kasse des Altenkreises führte und dann diesen auch nach außen hin, z.B. der Stadt gegenüber, vertrat. Jakobi hat mich gesund gemacht, hat sie oft im Hinblick auf ihre Tätigkeit in der Kirche gesagt. Sie war auch die Anregerin zu den Adventsbasaren, mit deren Ergebnissen viel Segen gestiftet werden konnte.
Eine wesentliche Hilfe in der Gemeindearbeit war für uns Pfarrer der Dienst der Gemeindehelferinnen Annemarie Fickert oder auch Ingrid Peters. Annemarie Fickert stammte aus Schlesien, hatte ihre Ausbildung im Burckhardthaus in Berlin, dem Ursprung aller Mitarbeiterinnen im weiblichen Jugenddienst, erfahren, war dann schon über die Grenzen ihrer Heimat als Jugendleiterin bekannt geworden und seit dem Beginn der 50er Jahre in Jakobi tätig. Mädchenkreise, Mütterkreise, Frauenhilfe, Altenarbeit, Konfirmandenunterricht, Kindergottesdienst und Bürodienst, in allem war sie kompetent mit vollem Einsatz ihrer Gaben dabei. Ohne sie kann ich im Rückblick mir meine Arbeit in St. Jakobi nicht denken.
Zum Schluss sollte ich noch an einige Organisten und Chorleiter erinnern. Da war zunächst der kürzlich verstorbene Uwe Gronostay. Hoch begabt begann er noch als Schüler die Orgel zu spielen und eine Jugendkantorei aufzubauen, die beim 5o-jährigen Kirchweihjubiläum 1961 ein beachtliches Konzert mit Bachkantaten bot. Er ist später weit über die Grenzen hinaus als Direktor des RIAS Kammerchores bekannt geworden und hat eine ganze Reihe von Konzerten auf CD herausgeben können. Der andere war Werner Zacharias, auch ein vorzüglicher Orgelspieler, dazu ein Talent für moderne Musik an der Hammondorgel. Mancherlei Schicksalsprüfungen und daraus resultierende Erkrankungen lasteten auf ihm, und doch bereicherte auch er mit seiner Kunst das Gemeindeleben; auf Konfirmandenfreizeiten war er eine unentbehrliche Hilfe, wenn er mit den Mädchen und Jungen Lieder sang und Musik machte, die ihnen lag.
Ob es richtig war, diese Namen zu nennen? Es hätten ja unendlich mehr sein müssen, und die Auswahl ist vielleicht ungerecht ausgefallen. Es geht auch nicht um Lob und Rühmen, um Dank schon, aber auch der muss den vielen ungenannten und ungezählten Menschen gelten, die Gemeinde lebendig gestaltet haben. Es sind die einfachen schlichten Menschen, von denen ich berichtete, die treu und selbstlos, ohne nach Anerkennung oder gar Lohn zu fragen, sich in den Dienst der Gemeinde stellen. Aber gerade diese Menschen machen das aus, was Kirche ist, Gemeinde der Heiligen, um das Wort Gottes und die Sakramente versammelte Dienstgemeinschaft.
Propst i.R. Klaus Jürgens, 1958-1980 Pfarrer an St. Jakobi